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Aktuelle Urteile
31.10.2024
Staatsrecht / Verfassungsrecht
BAföG-Grundpauschale im Zeitraum Oktober 2014 bis Februar 2015 mit dem Grundgesetz vereinbar
Kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf mehr Bafög
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass § 13 Abs. 1 Nr. 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) in der von Oktober 2014 bis Februar 2015 geltenden Fassung (a.F.), soweit die Regelung Auszubildende in staatlichen Hochschulen betrifft, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Die Vorschrift legte den monatlichen Bedarf – die sogenannte Grundpauschale – unter anderem für Studierende an Hochschulen auf 373 Euro fest. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass mittellose Hochschulzugangsberechtigte sich nicht auf einen subjektiven verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums berufen können, dem die Bemessung der Grundpauschale widersprechen könnte. Aus dem objektiv-rechtlichen sozialstaatlichen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen folgt derzeit keine spezifisch auf die Hochschulausbildung bezogene Handlungspflicht des Staates.
Anspruch auf individuelle Ausbildungsförderung
Nach dem BAföG haben Studierende einen Anspruch auf individuelle Ausbildungsförderung, wenn ihnen die für ihren Lebensunterhalt und ihre Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Die Höhe des Bedarfs für die Ausbildung an Hochschulen ergibt sich aus der – hier verfahrensgegenständlichen – Grundpauschale nach § 13 Abs. 1 BAföG zur Deckung des Lebensunterhalts und der Ausbildungskosten, einer Unterkunftspauschale, einem Kranken- und Pflegeversicherungszuschlag sowie Zusatzleistungen für Auszubildende mit Kind. Auf den Bedarf sind Einkommen und Vermögen der Auszubildenden sowie Einkommen ihrer Ehegatten oder Lebenspartner und ihrer Eltern anzurechnen. Insoweit bestehen Freibeträge. Die monatliche Förderung wird zur Hälfte als Zuschuss und zur Hälfte als Darlehen geleistet. Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Studentin hatte gegen Bafög-Höhe geklagt
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens nahm im Oktober 2014 ein Masterstudium an einer staatlichen Hochschule auf. Für das Studium wurden ihr unter Anrechnung von Einkommen ihrer Eltern für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2014 Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in Höhe von monatlich 176 Euro und für den Zeitraum Januar bis Februar 2015 in Höhe von monatlich 249 Euro bewilligt. Im Ausgangsverfahren begehrt die Klägerin die Bewilligung einer höheren Ausbildungsförderung für die Monate Oktober 2014 bis Februar 2015, weil sie die Höhe der gesetzlichen Grundpauschale für verfassungswidrig hält. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die Grundpauschale des § 13 Abs. 1 Nr. 2 BAföG im hier relevanten Zeitraum mit dem Grundgesetz vereinbar war.
Kein Anspruch auf weitere staatliche Förderung des Lebensunterhalts - auch nicht aus dem Sozialstaatsprinzip
Die Grundpauschale ist im hier maßgeblichen Zeitraum unter allen in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten mit dem Grundgesetz vereinbar. Es gibt keinen subjektiven verfassungsrechtlichen Anspruch mittelloser Hochschulzugangsberechtigter auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums, dem die Bemessung der Grundpauschale widersprechen könnte. Aus dem Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) kann kein Recht mittelloser Hochschulzugangsberechtigter auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums hergeleitet werden. Auf diesen Anspruch können sich nur diejenigen berufen, die selbst nicht zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins in der Lage sind. Er besteht nicht, soweit Möglichkeiten bestehen, eine solche Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu beenden wie etwa durch die Aufnahme einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit. Dieser Nachrang des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen gegenüber der Selbsthilfe gilt auch dann, wenn deshalb bestimmte grundrechtliche Freiheiten wie die hier in Rede stehende, einer nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Ausbildung an einer Hochschule nachzugehen, wegen fehlender Mittel nicht ausgeübt werden können. Es berührt nicht die Menschenwürde, wenn stattdessen zur Vermeidung von Bedürftigkeit einer existenzsichernden Ausbildung oder beruflichen Tätigkeit nachgegangen werden muss.
Das Recht Hochschulzugangsberechtigter auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG umfasst ebenfalls keinen Anspruch auf Gewährleistung der dafür notwendigen materiellen Voraussetzungen. Dieses Recht ist derivativer Natur. Es ist auf das jeweils vorhandene Studienangebot bezogen und kommt deshalb nur zur Geltung, wenn eine gleichheitsgerechte Teilhabe an den Hochschulen des Staates durch staatliche Maßnahmen wie ein nicht eignungsgerechtes Auswahlverfahren bei Kapazitätsbeschränkungen oder eine nicht hinreichend sozialverträgliche Ausgestaltung des Studienangebots beeinträchtigt wird. Hingegen umfasst das Teilhaberecht keinen Anspruch auf staatliche Leistungen zur Beseitigung von Hindernissen für den Zugang zum Studium, die den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet sind. Auch aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG folgt kein subjektives Recht mittelloser Hochschulzugangsberechtigter auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums. Der weite Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber nach dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) bei der Umsetzung des sozialstaatlichen Auftrags, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen, zukommt, schließt verfassungsrechtliche Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung grundrechtlich geschützter Freiheiten grundsätzlich aus.
Sozialstaatlicher Auftrag und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
Der sozialstaatliche Auftrag des Staates umfasst vielfältige und umfangreiche Aufgaben wie beispielsweise die Fürsorge und den Schutz Hilfsbedürftiger und sozial Benachteiligter, die Betreuung und Förderung von Kindern und Jugendlichen, die soziale Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, die Beschäftigungsförderung und die Förderung einer chancengleichen Bildung und Ausbildung. Dabei ist auf einen Abbau von den sozialen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit hinzuwirken. Diese allgemeine sozialstaatliche Aufgabe des Staates zur Umsetzung der grundrechtlichen Werteordnung in die Verfassungswirklichkeit verdichtet sich zu einem alle hierfür maßgeblichen Lebensstationen umfassenden speziellen objektiv-rechtlichen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen. Dies trägt der herausragenden Bedeutung Rechnung, die der sozialen Durchlässigkeit der Bildungs- und Ausbildungswege für eine gerechte, nicht von der sozialen Herkunft abhängige, sondern an der Leistungsfähigkeit ausgerichtete Verteilung von Lebenschancen zukommt. Allerdings sind die dem Staat für die Erfüllung aller dieser regelmäßig finanzwirksamen Aufgaben zur Verfügung stehenden Mittel notwendig begrenzt. Einer beliebigen Ausweitung staatlicher Einnahmen zur Aufgabenerfüllung stehen die Einschränkung der Kreditaufnahme nach Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG und der Erhalt der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der Steuer- und Beitragszahler entgegen. Das gilt auch mit Blick auf die Erfüllung des sozialstaatlichen Auftrags, dem von Verfassungs wegen kein Vorrang vor der Verwirklichung anderer staatlicher Aufgaben zukommt. Zudem ergeben sich faktische Grenzen für den Ausbau des Sozialstaats aus der Notwendigkeit, die für die Verwirklichung einer gerechten Sozialordnung unabdingbare Bereitschaft der Steuer- und Beitragszahler zur Solidarität mit sozial Benachteiligten zu erhalten.
Diese Begrenztheit der finanziellen Mittel macht eine Priorisierung der staatlichen Aufgabenerfüllung nach Art, Zeit und Umfang notwendig; dies gilt wegen ihrer besonderen Finanzwirksamkeit gerade auch für die Wahrnehmung der sozialstaatlichen Aufgaben. In öffentlicher Debatte die für die Lösung der Verteilungskonflikte maßgebliche Priorisierung festzulegen und sie an die wechselnden Bedürfnisse des Gemeinwesens anzupassen, ist zentraler Bestandteil der politischen Gestaltungsmacht des vom Volk gewählten Parlaments. Es verfügt auch funktional über die besten Voraussetzungen, um im Zusammenwirken mit der Regierung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen. Diese Befugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur Entscheidung über die Verwendung der knappen finanziellen Mittel würde durch subjektive verfassungsrechtliche Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer, einer chancengleichen Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit entgegenstehender Ungleichheiten beeinträchtigt. Die zur Erfüllung solcher Leistungsrechte notwendigen finanziellen Mittel könnten wegen der umfassenden Bindungswirkung nach Art. 1 Abs. 3 GG auf Dauer nicht mehr auf der Grundlage einer übergreifenden, an den aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ausgerichteten Priorisierung der staatlichen Aufgabenerfüllung für andere Gemeinwohlzwecke verwendet werden. Daher kann aus dem Wirkungszusammenhang von sozialstaatlichem Auftrag und der grundrechtlichen Werteordnung ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf staatliche Leistungen allenfalls ausnahmsweise für besonders gelagerte Konstellationen abgeleitet werden, wenn dies zur Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit absolut unverzichtbar ist. Die Ermöglichung eines Studiums mittelloser Hochschulzugangsberechtigter stellt keinen solchen Ausnahmefall dar. Allerdings sind staatliche Leistungen, die auch mittellosen Hochschulzugangsberechtigten eine Teilhabe am staatlichen Studienangebot ermöglichen, von erheblicher Bedeutung für einen chancengleichen Zugang zu Ausbildung und Beruf. Ansonsten kann einem mittellosen Hochschulzugangsberechtigten nicht nur die gewünschte Ausbildung, sondern regelmäßig auch der angestrebte Beruf verwehrt bleiben. Eine solche von den Vermögensverhältnissen abhängige Verteilung von Lebenschancen steht in Konflikt zu den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zugunsten der Ausbildungs- und Berufsfreiheit, der Gleichheit und des Sozialstaatsprinzips.
Das verleiht der Ermöglichung des Studiums mittelloser Hochschulzugangsberechtigter aber kein Gewicht, bei dem die Erfüllung dieser Aufgabe im Verhältnis zur Bedeutung und Dringlichkeit der anderen sozialstaatlichen Aufgaben von vornherein unabhängig von wechselnden Bedürfnissen dauerhaft unverzichtbar wäre. Daran ändert nichts, dass die Beseitigung sozialer Hindernisse für ein Hochschulstudium dem speziellen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen unterfällt. Denn auch im Verhältnis zu sozialen Bedarfen, die diesem Förderauftrag zugehören, ist eine besondere Unverzichtbarkeit gerade der Ermöglichung eines Studiums nicht erkennbar. So ist eine gerechte Verteilung von Lebenschancen auch bei nichtakademischen Ausbildungsgängen und Berufen nur gewährleistet, wenn der Zugang nicht von den Vermögensverhältnissen, sondern nur von der Eignung abhängt. Lebenschancen können zudem auf vielfältige Weise bereits frühzeitig abgeschnitten werden, etwa wenn es an Leistungen zur frühkindlichen Bildung oder zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien fehlt. Für alle diese wegen der Begrenztheit der staatlichen Mittel untereinander in Konkurrenz stehenden sozialen Bedarfe muss es bei der sozialpolitischen Priorisierungsbefugnis des Gesetzgebers bleiben.
Derzeit besteht keine Handlungspflicht des Staates
Die angegriffene Grundpauschale nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 BAföG a.F. ist auch nicht mit Blick auf den aus Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip folgenden objektiv-rechtlichen Auftrag des Staates zur Wahrung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen zu beanstanden. Der grundsätzlich weite sozialstaatliche Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wäre mit Blick auf diesen speziellen Auftrag überschritten, wenn wegen völlig unzureichender Maßnahmen zur Förderung der sozialen Durchlässigkeit und einer gerechten Verteilung von Lebenschancen im Bereich von Bildung und Ausbildung ganze Bevölkerungsgruppen faktisch von vornherein keine Chance auf Zugang zu bestimmten Ausbildungs- und Berufsfeldern hätten. Der Staat wäre dann objektiv-rechtlich verpflichtet, Maßnahmen zur Verbesserung dieser Situation zu ergreifen, wobei ihm ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukäme. Danach besteht derzeit keine Handlungspflicht des Staates in Bezug auf die Hochschulausbildung. Diese Ausbildung ist nicht einem erheblichen Teil der Bevölkerung von vornherein verschlossen, weil der Staat eine Förderung dieses Bereichs völlig vernachlässigt. Vielmehr sorgt der Staat gerade in diesem Ausbildungsbereich für soziale Durchlässigkeit. Das gilt nicht nur mit Blick auf die Förderleistungen zugunsten mittelloser Hochschulzugangsberechtigter nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz, die etwa ein Sechstel bis ein Fünftel aller Studierenden erhalten und die den meisten Geförderten ein Studium überhaupt erst ermöglichen. Darüber hinaus sorgt der Staat auch dadurch für soziale Durchlässigkeit, dass er unter Verwendung erheblicher öffentlicher Mittel selbst ein sozialverträgliches Studienangebot an staatlichen Hochschulen schafft.
Quelle:Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)
Angaben zum Gericht:
- Gericht:Bundesverfassungsgericht
- Entscheidungsart:Beschluss
- Datum:23.09.2024
- Aktenzeichen:1 BvL 9/21
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